Herzog et al. veröffentlichten 2017 eine Studie, in der ein und derselbe Proband innerhalb von drei Wochen in zehn unterschiedlichen Magnetresonanztomographie (MRT) Zentren an der Lendenwirbelsäule untersucht wurde. Anschließend stellten Experten die Ergebnisse gegenüber, welche eine erstaunlich hohe Variabilität der Interpretationen und eine hohe Diagnose-Fehlerrate zeigten, die letztendlich zu unterschiedlichsten therapeutischen oder sogar operativen Empfehlungen geführt hätten. Auch Brinkinij et al 2013 kommen zu einem ähnlichen Ergebnis mit ihrer Studie an beschwerdefreien Menschen, die anhand eines MRT’s untersucht wurden: 60% der über 50 jährigen haben einen Bandscheibenvorfall, 80% der über 50 jährigen haben eine Bandscheibenvorwölbung oder andere Abnormitäten, für die grundsätzlich ein operativer Eingriff dem Protokoll entsprechen würde. Auch für Hüftgelenke, Kniegelenke und Schultergelenke gibt es viele solcher Studien mit ähnlichen Ergebnissen.
(Herzog et al 2017, Brinkinij et al 2013)
Problematisch wird es vor allem dann, wenn aufgrund von Schmerzen im Bewegungsapparat nach einem solchen bildgebenden Verfahren anhand des Bildes Rückschlüsse getroffen werden, wie „Das Knie schmerzt, weil der Knorpel verschlissen ist, der Rücken schmerzt weil die Bandscheibe an Höhe verloren hat oder einen Vorfall hat“. Sowohl Arzt als auch Patient/in sind häufig froh, eine Erklärung für bestimmte Symptome, wie Schmerzen, gefunden zu haben. Das Problem an dieser Art der Diagnostik bei Schmerzen ist, dass man bei nahezu allen erwachsenen Personen Degeneration, Verschleiß und „Schäden“ an vielerlei Stellen finden würde, wenn danach gesucht wird, wie die oben erwähnten Studien gezeigt haben. Die meisten Menschen wissen gar nichts von ihren Abnutzungserscheinungen und es geht ihnen sehr gut damit. Dieser Umstand zeigt, dass es fast keinen Zusammenhang zwischen Befunden aus bildgebenden Verfahren und dem jeweiligen Schmerzzustand des Gelenkes gibt.
Natürlich bedeutet diese Darstellung der Ergebnisse nicht, dass ein verbildlichter struktureller Schaden unter keinen Umständen etwas mit der Schmerzwahrnehmung zu tun haben kann - liegt z.B. ein akutes Trauma vor (wie nach einem Unfall), besteht sogar grundsätzlich eine überdurchschnittlich große Korrelation zwischen Strukturänderung und Schmerzwahrnehmung. Festzuhalten ist jedoch, dass es vor allem bei lang anhaltenden Schmerzen noch viele weitere Variablen zu beachten gilt, die neben dem strukturellen Zustand unseres Körpers in die letztendliche Schmerzgenerierung einbezogen werden müssen:
Schmerzen entstehen primär im Gehirn
Es ist wichtig zu wissen, dass Schmerzen Informationen sind, die von unserem Gehirn in unseren Körper geschickt werden – nicht andersherum. Das bedeutet, dass das Gehirn alle relevanten Informationen verarbeitet (z.B. über die Temperatur einer Herdplatte) und dann entscheidet, ob es einen Grund gibt, Gefahrensignale in Form von Schmerzen in den Körper zu senden. Der Schmerz dient als Warnsignal, sodass ggf. die Hand von der heißen Herdplatte weggezogen wird. Wenn man so möchte, ist dieses System aus Sensoren, der Weiterleitung und der Verarbeitung so etwas wie eine körpereigene Alarmanlage. Sie verteidigt unseren Körper auf Schritt und Tritt und bezieht dabei alle Reize ein, die sie bekommen kann. Manchmal ist sie zu „scharf“ eingestellt und im dauerhaften Verteidigungsmodus – so können chronische – also langanhaltende Schmerzen entstehen. Das Alarmsystem des Körpers wird durch verschiedene Faktoren wie Überzeugungen, Gewohnheiten, Erfahrungen, soziale Faktoren, Gewebe, psychische Faktoren, generelle Gesundheit empfindlicher und sensibler. Irgendwann reicht eine „kleine“ Zusatzbelastung aus, wie schlechter Schlaf, und unser Nervensystem kann nicht mehr unterscheiden, ob die Situation eine reelle Gefahr darstellt oder nicht und somit protektive Schmerzsignale sendet.
G. Lorimer Moseley & David S. Butler – Explain Pain
Das Schmerzempfinden ist bei jedem Menschen unterschiedlich ausgeprägt und stark vom aktuellen Kontext abhängig. Es ist für eine außenstehende Person nicht möglich, den individuellen Schmerzzustand des Gegenübers nachzuempfinden und zu beurteilen. Aus diesem Grund sollte man sich mit jeglicher Art von Bewertung („Das kann doch nicht so schlimm sein!“ ) zurückhalten. Jeder wahrgenommene Schmerz ist real und für den Menschen sehr wohl greifbar, denn unser Gehirn verarbeitet dauerhaft eine enorme Menge an Informationen um zu entscheiden, was eine potentielle Gefahr für unseren Körper darstellt - einschließlich der sensorischen Daten aus unterschiedlichen Gewebearten, vergangenen Erinnerungen, Emotionen wie Angst, die Verfügbarkeit von sozialer und medizinischer Unterstützung und zukünftigen körperlichen Anforderungen. Mit dieser Erkenntnis dürfen wir davon ausgehen, dass das Gehirn die Erklärungen eines vermeintlichen Experten, wie einen Facharzt, zu einem hohen Maß in die Beurteilung einfließen lässt und ein verbal geschaffenes Bild einer verschobenen, vorgewölbten, auf den Nerv drückenden Bandscheibe die Schmerzwahrnehmung intensiviert.
Unnötige Eingriffe & der Nocebo-Effekt
MRTs können also nicht die gesamte Geschichte erzählen. Kann diese Zusatzinformation über die strukturelle Situation unseres Körpers nun aber Schaden anrichten? Aktuell kann angenommen werden (und unsere persönliche Erfahrung bestätigt), dass viele Experten den Ergebnissen eines MRTs eine zu große Rolle zusprechen und, wie oben angedeutet, eine Missdeutung in nicht seltenen Fällen zu überflüssigen, eventuell sogar kontraproduktiven Behandlungen und Eingriffen führt. Weiterhin können die dem betroffenen Patienten kommunizierten Ergebnisse einen Nocebo-Effekt (analog zum Placebo-Effekt) auslösen, der Ängste schüren, Schmerzen verschlimmern und möglicherweise einhergehende Dysfunktionen erst gar hervorbringen kann. Dabei sollte uns im Kontext einer engen Patientenbetreuung und produktiver Kommunikation nichts ferner liegen, als die wahrgenommenen Schmerzen als “Nur-im-Kopf-Phänomen” abzutun. Colloca, L., Grillon C., 2014
Fazit
MRTs können ein hilfreiches und zumal notwendiges Werkzeug darstellen. Dieses kann jedoch wie andere Hilfsmittel falsch eingesetzt werden, indem es zu stark gewichtet, ohne solide Begründung angewendet und nicht im Kontext weiterer Werkzeuge aller relevanten Professionen gesehen wird. In der Therapie von Schmerzzuständen sollte immer die Patientenedukation sowie das Fördern eines aktiven Lebensstils im Vordergrund stehen. So können auch chronische, seit Jahren bestehende Schmerzen gelindert oder sogar genommen werden. Denn unser Gehirn ist bioplastisch. Nicht nur unsere Muskeln und Sehnen adaptieren, auch unser Gehirn kann sich auf chemische und strukturelle Weise ein Leben lang anpassen. Das bedeutet, dass wir bis ins hohe Alter die Chance haben uns positiv zu verändern. Wir können lernen. Wir können durch Information eine Menge erreichen. Dadurch können Ängste abgebaut, Freude an Bewegung wieder hergestellt und Schmerzen reduziert oder eingestellt werden. Manches davon braucht Zeit, manchmal Jahre und manches ist in Sekunden erreichbar.
[von Finja Albrecht]
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